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Seniorenstudenten: Grauer Kopf studiert noch gern

Immer mehr ältere Menschen schreiben sich als Gasthörer an den Universitäten ein, lernen Neues und vertiefen ihr Wissen

Das Bild in den Hörsälen deutscher Universitäten hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Zwischen den 20-Jährigen sitzen immer öfter Männer und Frauen, die ihre Ausbildung schon lange hinter sich gelassen haben. Doch die Lust am Lernen treibt sie auch im reiferen Alter wieder auf den Campus.

Die Bücher unter den Arm geklemmt, schiebt sich Petra Mielcke durch den Pulk wartender Studenten. Zwei junge Mädchen verabreden sich zum Lernen in der Cafeteria, drei andere sind in ein Streitgespräch über Literatur vertieft. Die 67-Jährige nickt den jungen Studentinnen kurz zu. Man kennt sich inzwischen.

An der Georg-August-Universität in Göttingen sind Studenten, die wie Petra Mielcke jenseits der 60 sind, schon lange keine Exoten mehr. Sie sitzen in den Hörsälen inmitten der Jungen, essen in der Mensa und stöbern in der Universitätsbibliothek nach wissenschaftlichem Material. Und sie werden immer mehr. Das ist nicht nur an der „Universität des Dritten Lebensalters“ in Göttingen, die Partner der regulären Uni ist, ein Trend. Die Zahl der Seniorenstudenten an den deutschen Universitäten und Hochschulen ist in den vergangenen Jahren von Rostock und Hannover über Köln und Frankfurt bis nach Augsburg und München kontinuierlich gestiegen. Laut des Akademischen Vereins der Senioren in Deutschland (AVDS) waren im Wintersemester 2010/2011 bundesweit rund 58.000 Studenten über 50 Jahre registriert, davon rund 39.000 Gasthörer. Jeder zweite Gasthörer in Deutschland ist über 60 Jahre alt. Der Anteil der „älteren Semester“ hat sich in den vergangenen zehn Jahren damit um ein Viertel erhöht.

Kein Abschluss

Das Seniorenstudium ist ein Gasthörerstudium, das auf die Bedürfnisse älterer Menschen zugeschnitten und an allen deutschen Universitäten möglich ist. Es unterscheidet sich vom ordentlichen Studium dadurch, dass kein wissenschaftlicher Abschluss angestrebt wird. Eine Hochschulzugangsberechtigung, also ein Abitur, ist in den meisten Fällen nicht nötig. Gasthörern steht in der Regel ein breites Fächerspektrum zur Verfügung. Viele Hochschulen ergänzen diese Studienform mit speziellen Beratungs-, Orientierungs- und Begleitveranstaltungen. Die Seniorenstudenten können so aus dem normalen Vorlesungsverzeichnis auswählen und an für sie maßgeschneiderten Programmen teilnehmen. Sie zahlen dafür eine Semestergebühr, die zwischen 100 und 300 Euro liegt. Für Wirtschaft, Geschichte und Philosophie begeistern sich „ältere Semester“ am meisten. Ein reguläres Studium, das zu einem akademischen Abschluss führt, absolvieren nur wenige, im Wintersemester 2010/11 waren es 0,2 Prozent.

Petra Mielcke hat die Literaturwissenschaft für sich entdeckt und gemeinsam mit ihren Kommilitonen schon einen Krimi geschrieben, der demnächst veröffentlicht werden soll. In den Seminaren der promovierten Germanistin Dr. Ruth Finckh wird nicht nur klassische und moderne Literatur gelesen und interpretiert, in der Schreibwerkstatt probieren sich die Studenten auch aus. So, wie am letzten Kurstag vor den Semesterferien. Alle haben ihre Hausaufgaben erledigt: Aus Kontaktanzeigen, die in Zeitungen erschienen sind, sollten fantasievolle Kurzgeschichten entstehen.

An der Technik feilen

Da geht es beispielsweise um zwei resolute Freundinnen, die aus einer Sektlaune heraus den Mann fürs Leben finden wollen, oder um einen gestressten Mittfünfziger, der eine Partnerin sucht, die zwischen den Zeilen lesen kann. Kursleiterin Dr. Ruth Finckh lobt und gibt Tipps, wie einige Stellen noch runder formuliert werden können. Die Kritik wird von den Seniorenstudenten begierig aufgenommen, denn sie wollen etwas mitnehmen aus dem Kurs und an ihren Schreibtechniken feilen.

„Seit ich mich an der Uni eingeschrieben habe, bin ich zufriedener geworden“, sagt Ursula Becker. Jeden Dienstag, ihrem Studiertag in Göttingen, vergisst sie den Alltag. Sorgen, belastende Gedanken fallen von ihr ab, und sie taucht ein in die Welt der Literatur und des Schreibens. „Es fühlt sich gut an, wenn der Kopf etwas zu tun hat“, so die 69-Jährige. Dozentin Dr. Finckh nickt bestätigend und fügt hinzu: „Lernen ist gesundheitsfördernd.“ Mit dieser These steht sie nicht allein. Denn inzwischen geht die Wissenschaft davon aus, dass graue Zellen auch im Erwachsenenalter wachsen, wenn sie trainiert werden. Das Gehirn lernt demnach nie aus. Ständig bildet es neue Verbindungen. Die Evolution programmierte es zum Lernen und brachte sogar einen Belohnungsstoff hervor: das Dopamin. Der Botenstoff macht glücklich – und süchtig nach Lernen. Er wird ausgeschüttet, wenn der Mensch ein Problem gelöst hat. Bis ans Ende des Lebens lässt sich das Gehirn wie ein Muskel trainieren.

Während junge Studenten unter Leistungsdruck stehen, Klausuren schreiben und Prüfungen bestehen müssen, sind Senioren frei von allem Druck. Sie können sich Wissensgebiete aussuchen, die sie schon zeitlebens interessiert haben oder die sie vertiefen möchten. Sie lernen quasi aus purem Interesse und aus Spaß. Manche verfolgen auch ein klar umrissenes Ziel. So wie Jörg Winkler, der seine Familiengeschichte aufschreiben will. Oder Ursula Becker, die ihren Krimi schon im Kopf hat. Andere wie Helga Margenburg erfüllen sich mit dem Seniorenstudium einen Lebenstraum. „Ich bin ein Kriegskind. Für mich kam studieren nicht infrage“, sagt die 67-Jährige. Als sie im Oktober 2006 ihren ersten Kurs belegte, da habe sie sich wie auf „Wolke sieben“ gefühlt. Und dieses Gefühl halte an. Kein Wunder, dass viele Senioren mittlerweile zu den Langzeitstudenten gehören. So wie Hans Sondermann, der seit mehr als 15 Jahren an der Göttinger „Universität des Dritten Lebensalters“ eingeschrieben ist. „Solange sich der Mensch ausprobiert, ist er frei“, ist das Motto des 80-Jährigen. Das Lernen bekomme im Alter eine andere Dimension: das Verschwommene werde klarer, das Ambivalente eindeutiger. Das Gehirn noch mal herauszufordern, dafür sei es nie zu spät.

Der Älteste ist 91 Jahre

Das beweist auch ein betagter Herr aus Leipzig, der sich mit 80 Jahren noch einmal in den Hörsaal setzte. Heute ist er mit 91 Jahren der älteste Gasthörer an der Leipziger Uni und interessiert sich besonders für Medien- und Kommunikationswissenschaften. Er und die anderen Seniorenstudenten haben außerdem die Möglichkeit, studienbegleitende Veranstaltungen wahrzunehmen, die vom Verein zur Förderung des Seniorenstudiums organisiert werden. Der Verein berät zudem „ältere Semester“ bei der Planung ihres Studiums. „Ältere Menschen sind schon lange keine Seltenheit mehr im Hörsaal“, weiß Dr. Christine Nieke, verantwortlich für das Seniorenstudium an der Leipziger Uni. Im Hörsaal gebe es keine Grenze zwischen Jung und Alt. Im Gegenteil, man halte sich schon mal gegenseitig einen Platz frei. Und insgeheim bewundert so mancher Mittzwanziger wahrscheinlich den „coolen Opa“ oder die „schlaue Oma“, die in Geschichte, Literatur und Co. locker mithalten können. (ikl)

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